Rede zur Ausstellungseröffnung „Im Bild bleibt die Zeit stehen – Part IV“, in der Galerie Mönch Berlin, am 9. September 2017
Von Michaela Nolte
Liebe Frau Osman, liebe Victorine, lieber Max, lieber Hannes und, wenngleich er leider heute nicht persönlich anwesend sein kann, lieber Thomas!
Aber Thomas Müllenbach lässt ganz herzlich von Kreta, wo seine schweizerische Frau ein griechisches Kulturzentrum initiiert hat und leitet, grüßen. Ich weiß nicht, ob um diese Uhrzeit aus dem „Bett Souda“, das Sie hier sehen, aber das Bett und unser tagtägliches Aufstehen ist laut Vilém Flusser „ein Beweis für unser Wissen vom Tod, denn ohne dieses Wissen wäre nichts dringend, und wir könnten ruhig liegen bleiben.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde und Freundinnen, ich freue mich also, dass Sie und ihr den Entschluss gefasst haben, aus dem Bett aufzustehen und hier hergekommen sind.
Bei den Überlegungen, wie wir das 40-jährige Jubiläum der Galerie gestalten, haben wir festgestellt, dass wir seit fast 20 Jahren mit Künstlern aus der Schweiz zusammenarbeiten. Die erste Ausstellung fand 1999 mit Franz Gratwohl statt, der sich heute vor allem der Lehre widmet, den wir aber sozusagen außerhalb der Ausstellung mit seinem „Bleifuß“ würdigen möchten. Franz Gratwohl, der in den 90er-Jahren gemeinsam mit Stefan Halter ganz fantastische Performances gemacht hat, kam eines Tages und sagte: „Wir sind gute Performer, aber die beste Performance-Künstlerin überhaupt ist Victorine Müller. Die hat gerade ein Stipendium in Berlin und ihr müsst sie kennenlernen.“ Wir haben Victorine und ihre Arbeiten kennen und lieben gelernt und 2004 die erste Einzelausstellung gemacht.
„Ihr Wesen entspricht ihren Wesen“, hat der Mönch nach unserem letzten Atelierbesuch in Zürich notiert. Und weiter, Victorine komme ihm vor: „wie eine zeitgenössische Schwester des irischen Leprauchuns. Dem mythischen Naturgeist, der sie als Botschafterin der Unterwelt zu uns geschickt hat. Mit ihren Aquarellen auf Papier, mit den transparenten PVC-Hüllen ihrer Skulpturen und ihren Performances erzählt uns Victorine von dieser Welt. Eine Einladung an die Phantasie des Betrachters.“
Wenn wir nun die Aquarelle von Victorine Müller betrachten, ist es nicht leicht, sie auf einen Nenner zu bringen. Schon deshalb, weil jedes dieser Wesen selbst mehrere Möglichkeiten in sich vereint: Da ist der Storchenspatz oder der Nasendinodrachenbär. Im Kabinett weilen ein: Elfensteinflugbockshund oder der Grillenstrauß. Letzterer scheint verwandt mit dem australischen Hanghuhn, das bekanntlich ein kurzes und ein langes Bein hat. Wie überhaupt die Beinkonstellationen von Victorines Wesen bemerkenswert sind. Bei Robert Walser heißt es so schön: „Beine laufen vor dir und hinter dir und du selber beinelst auch, was du nur kannst“
Woher her beineln nun diese Gnome oder Elfen, Kobolde oder Olmen? Denn darin sind uns diese Urviecher ja doch nicht unähnlich. Das Blatt um sie herum lässt die Künstlerin weiß. Unbeschrieben, unberührt verrät es nichts über den Ursprung. Wir müssen uns also selbst einen Reim darauf machen. Ich schlage vor, sie kommen aus Gorland, Görlitz oder Göschenen.
Gorland klingt einfach passend für diese Wolpertinger, Görlitz steht für ihren Bezug zu unserer Welt und in Göschenen, im Kanton Uri, sind einige der Aquarelle und der gezeichneten Videos tatsächlich entstanden. Obschon auch Göschenen, für mich als Stadtkind, etwas ganz real Verwunschenes hat. Zum Beispiel gibt es dort einen moosbewachsenen Stein, der in Gestalt eines überdimensionalen Frosches im Wald steht. „Zweifellos“, heißt es in Isaac B. Singers Gimpel, der Narr „besteht diese unsere Welt nur in unserer Einbildung, aber sie liegt von der wirklichen Welt nur einen Katzensprung entfernt.“
Vielleicht ist Göschenen ein Teil von Victorine Müllers Anderswelt. Vielleicht hat die Künstlerin die 500-Seelen-Gemeinde nahe des Gotthard-Passes während ihrer Stipendienaufenthalte auch dazu gemacht. Hier ein Foto von Victorines Performance „timeline“, neulich im Kunstdepot Göschenen, als realer Beweis für Singers Katzensprung. Victorines Figuren, Figurinen und Wesen scheinen aufs Blatt zu wehen, zu fließen. Tauchen auf, aus diesem Reich, das die keltische Mythologie als Anderswelt kennt. Sie schnäbeln freundlich und versöhnlich, äugeln empathisch und weise, sind verspielt und verträumt.
Der Grundtenor dieser Aquarelle ist charmant, erotisch und von subtilem Witz. Doch ihre Fabelhaftigkeit und Leichtigkeit scheint in jedem Moment zu kippen, scheint bedroht. Manche tigern unruhig durch die Oberwelt, andere stampfen finster durch die Unterwelt, blicken grimmig auf die Zerstörung unseres Lebensraums, der letztlich ja auch ihr Lebensraum ist. Allein die jüngsten Katastrophen in den Schweizer Alpen, auf den Karibikinseln und in Mexiko zeugen von den Folgen menschlicher Hybris.
Elfriede Jelinek schreibt in ihrem Stück er nicht als er, das den Untertitel zu, mit Robert Walser trägt: „Wenn ein Tiger keine Gelegenheit zu haben glaubt, Tiger zu sein, will er aus Verdruß oder Wehmut sogleich ein Schaf werden. Damit meine ich: Jeder sollte sich so klein machen, wie er nur kann. Das soll gern auch für mich gelten.“
Aber wie schwer fällt es, von uns abzusehen und nicht um uns selbst zu kreisen. Die Kunst von Victorine Müller ist ein Angebot mit Ruhe und Demut in andere Welten zu blicken. Ihre Wesen sind zart und ephemer, zugleich kraftvoll und wissend. Verwurzelt in einer ganz eigenen Energie. Da ist das pointierte Aquarellieren wie eine künstlerische Momentaufnahme. Da sind die ständigen Verwandlungen in den Videos. Trotz des Flüchtigen scheinen diese Wesen eine lange Geschichte zu haben.
In der Kunstgeschichte finden wir ihre Ahnen bei Hieronymus Bosch oder Pieter Breughel, in der Literatur in Shakespeares Puck aus dem Sommernachtsraum oder Ariel, dem Luftgeist aus Der Sturm. Sie erinnern an den Elfenkönig Alberich des mittelalterlichen Nibelungenlieds und an Die Vögel von Aristophanes.
In den gezeichneten Videos kommt diese Historie zudem in Bewegung. Die Figuren begegnen und umärmeln sich, wachsen ineinander und über sich hinaus. Bilden kuriose Verbindungen und verwandeln sich zu ständig neuen Konstellationen. Jedes Video besteht aus einer einzigen Zeichnung! Die Künstlerin zeichnet und radiert, zeichnet weiter und … Ein geduldiger Prozess von Hinzufügen und Wegnehmen, von Werden und Vergehen, in dem sich Erlebtes und Erinnerungen palimpsestartig ablagern.
Der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel hat neulich in der Neuen Zürcher Zeitung dafür plädiert, dass die Wissenschaft sich die Intuition der Dichter mehr zu eigen macht: „Anscheinend ist die Macht des impliziten Wissens oder der Intuition viel stärker, als wir zu glauben geneigt sind. Albert Einstein hat angeblich bemerkt: »Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.«”
Victorine Müllers Wesen kommen direkt aus ihrer künstlerischen Tiefe. Sie vermögen, uns staunen zu machen und das Geschenk wieder mehr zu bedenken.
Ein ebensolches, wiewohl künstlerisch ganz anderes Geschenk, kommt von Max Hari. Vor einigen Monaten kam Max mit einem Stapel Bildern auf Leinwand und Papier in die Galerie und sagte: „Ich habe mir gedacht, zu einem Jubiläum gehören Blumen und habe euch Blumen zum Fest mitgebracht.“
Was zunächst an diesen Blumenstillleben auffällt, ist ihre Energie und Freude versprühende Farbigkeit. Im Bild bleibt die Zeit stehen, haben wir als Motto der fünf Ausstellungen im Jubiläumsjahr gewählt. Dass das nichts mit Stillstand zu tun hat, zeigen die Bilder von Max Hari aufs Trefflichste. Gerade so, als hätten sich Ereignisse und Erfahrungen, Kunstwerke, Menschen und Gespräche, Geschichten aus vier Jahrzehnten in schönster Simultaneität in ihnen vereint. Dabei ist Max, neben Hannes Brunner, den wir in dieser Ausstellung zum ersten Mal präsentieren, der jüngste Neuzugang im Galerieprogramm.
Max Haris Bilder tragen die klassischen Merkmale des Blumenstilllebens durchaus in sich: die Konzentration auf Blumen und Gefäße, das Memento mori herabfallender Blüten und Blätter. Der umgebende Raum ist eingegrenzt, der Bildgegenstand fokussiert, geradezu herangezoomt. Doch scheinen die Gegenstände in diesen Bildern nicht zu ruhen oder gar zu stagnieren. Max Haris expressiver Duktus lässt sie pulsieren. Lässt auf dichtem Raum einen Rausch entstehen. Einzelne Farbpartien stürzen senkrecht oder diagonal durch und über die Motive. Andere ziehen im Eiltempo vorüber, während schwarze Linien den rhythmischen Klang eines „Bouquets“ akzentuieren.
Der staccatoartige Farbauftrag verleiht den Ornamenten der Gefäße ein Eigenleben. Im „Kleinen Strauß“ purzeln sie munter durcheinander, in der „Topfpflanze“ lösen sie sich auf und der „Strauß“ lässt die Grenzen von Blumen und Vase amalgamieren.
Farbrisse erzeugen Blicköffnungen im großformatigen „Stillleben mit Schnittblumen“ und das komplementäre Blau und Orange der „Fleurs“ wird zu einem schwankenden Schiff. Zu eben dieser Pendelbewegung, die Aby Warburg in „der polaren Funktion der künstlerischen Gestaltung zwischen einschwingender Phantasie und ausschwingender Vernunft“ ausgemacht hat.
In diesem Zwischenraum vermitteln die Bilder – bei aller Lebhaftigkeit – etwas Abgründiges, das über das Vanitas-Symbol, die Blume als Sinnbild von Eitelkeit und Vergänglichkeit, hinausweist.
Nicht nur angesichts des diesjährigen 150. Todestages Charles Baudelaires denkt man bei diesen Blumen an die Fleurs du Mal des Poète maudit. Vor einigen Jahren ist ein Zyklus mit Zeichnungen entstanden, den Max Hari „Bouquet de Fleurs du Mal“ betitelt hat. Ein Zyklus mit schwarzweißen Kohlezeichnungen, sehr frei und eindrücklich zu den Gedichten Baudelaires assoziiert. Eine künstlerische Zwiesprache zwischen Lyrik und Zeichnung, zu der der Kunsthistoriker Peter F. Althaus wiederum aphoristische Gedanken zu den Zeichnungen Haris verfasste. Das zum „Bouquet de Fleurs du Mal“ publizierte Buch veranschaulicht auf sehr besondere Weise das ineinanderwirken dieser Ebenen, in denen intuitives Wissen und originärer Ausdruck die Dinge weiterschreiben respektive weiterzeichnen und den Gedankenraum öffnen.
So, wie Max Hari auch dem Nature morte eine frische Aktualität verleiht. In dem er den Bildgegenstand mit Pinsel und Farbe, regelrecht mit Furor fragmentiert, werden diese Blumen-Stillleben zu Blumen des rasenden Stillstands. Bisweilen verfluchen wir Paul Virilios geflügelten Begriff, der längst Einzug in unseren Alltag gehalten hat. Aber ebenso geben wir uns diesem rasenden Stillstand, ob freiwillig oder notgedrungen, ob ungewollt oder genüsslich, tagtäglich hin. Diese Ambivalenz ist es, die Max Haris Bilder und seine Malweise geradezu körperlich nachempfinden lassen.
Thomas Müllenbach ist fast der gleiche Jahrgang wie Max Hari. Doch der Kontrast zwischen den beiden Malern könnte kaum größer sein. Vielleicht, weil Müllenbach aus dem aus schweizerischer Sicht ‚nördlichsten Kanton’ stammt. Er ist in Koblenz geboren. Vielleicht, weil er, nach dem Kunststudium in Karlsruhe, die altmeisterliche Technik während einer Ausbildung zum Restaurator zu genüge vertieft hat. Absolviert hat er diese Ausbildung in Zürich, wo er seit 1972 lebt, 1985 Mitbegründer der Kunsthalle Zürich war und bis 2015 eine Professur für Malerei an der Zürcher Hochschule der Künste inne hatte.
Der persönliche Duktus wirkt bei Thomas Müllenbach zurückgenommen. Sein Farbauftrag ist betont dünn, fast ruppig vernachlässigend. Von delikater oder vitaler Peinture keine Spur. Noch größer erscheint der Kontrast, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es sich bei diesen Bildern ebenfalls um Stillleben handelt. Nur ist das Still-Leben bei Müllenbach ausgeprägter als bei Hari.
Thomas Müllenbachs kühl-distanzierte Malerei führt in eine nicht näher verortete „Halle“ oder vor eine weder topographisch noch topologisch einzuordnende „Stellwand“. Nur die Betten haben ihren ungefähren Ort. Das eine, wie gesagt, im griechischen Souda, das andere trägt den Titel „Bett Berlin“. Lakonisch rückt der Maler einen einzigen Gegenstand ins Bild. Einen Alltagsgegenstand. Und den nicht mal komplett und repräsentativ positioniert, sondern als Detail. Dem „Sofa“ fehlt eine Ecke, dem „Gips“ scheint der Mensch abhanden gekommen.
Titel und Andeutungen, die ins scheinbare Nichts führen und den Bildern gerade darin eine spannungsgeladene, manchmal unheimliche Offenheit verleihen.
Mit nonchalanter Ironie und einigen melancholischen Hintertüren blickt der Maler auf das Gewöhnliche und Banale. Und wenn er eines dieser Bilder „Licht“ nennt, so führt das bei Thomas Müllenbach in der Regel hinters Licht.
Es geht um das Verschieben und Verrücken von Norm und Normalität, letzthin um das Wesen der Wirklichkeit, das Müllenbach so lange verfremdet, bis es auf eine andere Art für den Betrachter wieder kenntlich wird.
„Man braucht nicht viel zu sehen. Man sieht so schon viel“, schreibt Robert Walser in der Erzählung Kleine Wanderung. Es scheint, als könnten wir dem großen Schweizer Schriftsteller in dem Aquarell „Back of Man“ beim Sehen zusehen. Auch wenn „Back of Man“ kein explizites Walser-Portrait ist, so vereint die beiden Künstler ihre Reduzierung und Fokussierung auf das Wesentliche.
Auf das Unscheinbare und scheinbar Unbedeutende, das bei Müllenbach immer auch eine politische Haltung impliziert. Im Ausstellungskatalog der Kunsthalle Zürich zitiert er Berthold Brecht: „Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“.
Anlässlich unserer Ausstellung „hold the line“, im Jahre 2015, sagte der damalige Schweizer Kulturattaché, Johann Aeschlimann, über Müllenbach: „Geboren in Deutschland und in der Schweiz angesiedelt und angewachsen – so sehr angewachsen, dass er sich in die lokalen Auseinandersetzungen um Kunst und Politik einbringt und – wie ich lese – auch unbeliebt gemacht hat, wofür ihm ganz offiziell zu danken ist. Denn wir sollen um jeden froh sein, der sich auf der lokalen Ebene einbringt und nicht in einer Nische verharrt.“
Dass es allerdings auch anders herum funktioniert, zeigt Hannes Brunner. Geboren in Luzern, trägt er in Insider-Kreisen längst den Titel deutsch-amerikanischer Urschweizer. Nach dem Studium in Zürich und Kassel, hat er unter anderem in Basel, Rom und Dubai unterrichtet, und er ist Besitzer einer Green Card. Ob man angesichts der aktuellen US-Politik noch das Adjektiv stolz hinzufügen kann, sei dahingestellt.
Man kann Hannes Brunner in der Tat als Personifizierung des Begriffs Weltenbürger bezeichnen. Wenngleich er seit 2012 wieder einen Koffer in Berlin hat, als Professor für Bildhauerei an der Kunsthochschule Weißensee. Doch auch als solcher verharrt er mitnichten in einer Nische, schon gar nicht in der Kunstnische.
2016 hat Hannes Brunner mit seinen Studenten das Areal zwischen Kanzleramt, Schweizer Botschaft und Bundestag aufgemischt. Mit einer temporären Installation, in der öffentlich – wie es in einer Info hieß: „die allseits bekannten Debatten geführt (oder gefürchtet) werden können.“
Leider waren die Künstler der Zeit etwas voraus. Denn wir Deutschen würden derzeit ja nichts sehnlicher wünschen als politische Streitgespräche, die den Namen Debatte auch verdienen. Dabei hätten die Politiker bei Brunners Aktion das Salz in der Debatte finden können. Tempi passati. In zwei Wochen haben wir die Qual der Wahl. Und während allseits als Entscheidungshilfe der internetbasierte Wahl-O-Mat gefeiert wird, widmet sich Brunner dem komplexen Verhältnis von „human-human zu non-human-human, der Künstlichen Intelligenz und dem Internet of Everything mit dem Menschen“.
Hannes Brunners Kunst lebt vom Spannungsverhältnis zwischen einfachen Materialien auf der einen Seite und künstlerischen wie soziologischen Hintergründen auf der anderen. In derlei Schichtungen transformiert er Konzeptkunst und Arte Povera in die Gegenwart und mit der Erweiterung des Raum-Zeitverhältnisses um die Aspekte des digitalen Raums eben auch in die Zukunft.
Was ihm sonst Pappkartons und Papprollen oder ausgediente Türen in raumgreifenden Installationen waren, bieten ihm jetzt die tagtäglichen Bilder aus dem Internet. Die bereitet er in Form von Bastelbögen auf. Computerdrucke auf Papier, Plastik- oder Aluminiumfolie, die der Künstler als Steh-Auf-Männchen und -Weibchen ausschneidet, faltet oder zerknüllt.
Zukunftsvisionen, die im digitalen Alltag schon jetzt Realität sind, wenn auch schleichend. Algorithmisierte Vorgänge in kleinen und großen Geräten, die unsere Gesten und Verhaltensweisen prägen und en passant auch unser Denken und Erleben. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han hat das 2013 auf die Formel „Vom Handeln zum Fingern“ gebracht.
Über diese Wandlungsprozesse sagt Hannes Brunner: „Dabei fällt immer mehr die unaufhaltbare Auseinandersetzung mit der bis anhin einzigartig geglaubten Kapazität des Bewusstseins ins Gewicht; des sich aus der Erfahrung heraus Erlernten und Erlernenden, was zunehmend auch den Geräten um uns herum nachgesagt werden kann. Der Mensch tut gut daran, sich von jetzt an eher ein neues wohlgesonnenes, auf Gleichstellung bedachtes Verhältnis zu den Dingen und Intelligenten Wesen anzugewöhnen. Denn nun geht es um das in seinem algorithmisierten Handeln eingebundene Gerät, das treu wie ein Hund von unseren Anordnungen lernt, um uns gleichfalls zu beraten.“
Da sind sie also, in fast schon trauter Verbundenheit: die Menschen inmitten des Socializing with Bots. Beim Tanz ums freundlich anmutende, digitale Kalb. As Bots as Me. Ihre Gliedmaßen wedeln und recken sich wie einst die Windmühlen in Cervantes Don Quichote. Wer hier gegen wen kämpft oder Allianzen schließt, wer oder was human-human oder non-human-human ist, bleibt offen.
Fast schon ein wenig perfide, dass Hannes Brunner uns diese Welt, dieses Dasein im digitalen Raum als verspielte Pop-up-Erzählung präsentiert. Der Homo sapiens als Homo ludens, der spielende Mensch auf A-4-Format genormt. Die dazugehörigen Sockel sind zwar nicht aus Marmor, bilden in der perfekten Ausführung durchaus eine Reminiszenz an ihre einst repräsentative Funktion.
Bereits im Jahre 1987 schrieb Vilém Flusser: „Während wir auf die von der untergehenden Sonne des Alphabets noch immer ein wenig angeleuchteten Bilder starren, geht in unserem Rücken etwas Neues auf, dessen erste Strahlen bereits unsere Szenerie treffen. Ähnlich den Sklaven in Platons Höhle müssen wir uns umdrehen, um diesem Neuen die Stirn zu bieten.“
Die Kunst von Hannes Brunner bietet uns, den Betrachtern, immer wieder die Möglichkeit, unsere Stirn erneut zu entdecken und zu trainieren. Was von Johan Huizingas Ideal des spielenden Menschen als gleichsam schöpferischem Wesen übrig bleibt, darüber lassen Hannes Brunners Aufklapp-Skulpturen trefflich debattieren. Wem diese Debatten nicht dringlich erscheinen, der muss halt ruhig liegen bleiben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre Wachheit!