Eisen trifft auf Büttenpapier, Stahl trifft auf Granit und Letzterer wiederum auf Meerschaumpulver oder Alabaster, die sich mit Acryl und Wachs verbinden, mit Japanpapier und Leinwand. Es sind besondere Stoffformationen – und ihre Reaktionen auf- und untereinander –, mit denen Carola Czempik und Reiner Mährlein das Verhältnis und die Bedingungen von Materie, Form und Inhalt erforschen.
Was die beiden Künstler verbindet, auch wenn oder gerade weil sie sich der Stofflichkeit in ganz gegensätzlichen Gattungen widmen, sind die vier Elemente.
In der Philosophie der Urstoffe unterscheidet Aristoteles zwischen der „Materia prima“ und der „Materia secunda“. Erstere ist nicht dinglich, sondern als metaphysisches Prinzip die Grundlage der vier Elemente, aus denen sich alles Stoffliche, alle Substanzen entfalten. Während die „Materia secunda“ bereits geformte Materie ist, also die einzelnen Dinge an sich, die sowohl aus Materie als auch aus Form bestehen.
Es geht also nicht nur um Material im Sinne des Werkstoffs, sondern im Hinblick auf die Substanz um die metaphysische Beschaffenheit und Wandelbarkeit von Materie. Es geht mithin um uralte, substanzielle Fragen. In einer Zeit, in der sich die Dinge ins Stofflos-Virtuelle verlagern – digitale Hardware immer winziger und unser Handeln und Denken zunehmend von unsichtbaren Algorithmen gelenkt wird –, ist der Rückgriff auf die Vergangenheit durch den künstlerischen Blick der Gegenwart eine wichtige Möglichkeit, die Imaginationsräume der Zukunft anders zu sehen und vielleicht auch zu gestalten.
„Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit“, heißt es bei Ludwig Wittgenstein.
„Den Gegenständen entsprechen im Bild die Elemente des Bildes.
Das Bild ist eine Tatsache.“
Die Elemente des Bildes und ebenso der Plastik implizieren in der Kunst immer auch das Ausloten der formalen Möglichkeiten und Grenzen: der Malerei, und also der Fläche bei Carola Czempik, und der raumplastischen Aspekte bei Reiner Mährlein.
Wenngleich auf eine sehr subtile Art, so möchte ich behaupten, dass Carola Czempik die Bedingungen und Grenzen der Malerei auf den Kopf stellt. Die Künstlerin probt weder den Aufstand durch den Ausstieg aus dem Bild wie Jackson Pollock oder Janis Kounellis in den 1950er-Jahren noch den radikalen Schnitt in die Leinwand à la Lucio Fontana.
Czempik respektiert die autonome Grenze des Tafelbilds. Aber sie erweitert es in die Tiefe des Raumes, zieht den Betrachter vom ersten Moment an in den Bildraum hinein. In Windsbraut oder Haus der Gewässer – die zunächst relativ monochrom wirken – muss das Auge unter die Oberfläche vordringen, um sie zu ergründen. Ihr flirrend differenziertes Farbenspiel will in der reduzierten Tonalität erst entdeckt werden. Die Farbe selbst wird zum Gegenstand. Übrigens setzt Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus die Farbe mit „Färbigkeit“ gleich. Ein treffender Begriff für Czempiks Malerei; denn in ihm klingt der Transformationsprozess an, den sie der Farbe angedeihen lässt. Genau genommen, kann man hier nicht von Farb-Auftrag sprechen. Vielmehr seziert und analysiert Carola Czempik den Gegenstand Farbe, moduliert und überlagert ihn zu diffizilen Schichtungen.
Ein weiterer zentraler Werkstoff ist Salz. Für Bilder wie Fluten oder Feste Wasser werden hauchfeine Papiere oder textile Gewebe wie Eukalyptus-Cellulose mit Salzlasuren bestrichen oder in Salzlauge eingelegt, getrocknet, wieder bestrichen, wieder eingelegt und wieder getrocknet. Manche der Bilder bestehen aus bis zu 20 Überlagerungen.
Aus diesen Materialexperimenten entsteht ein fruchtbarer Dialog der Stoffe untereinander. Ein Dialog, den die Künstlerin auf einer weiteren Ebene mit der Literatur führt. So ist die großformatige Serie Haus der Gewässer in der Auseinandersetzung mit Albert Camus’ Essay La Mer entstanden. Die 24-teilige Serie Dreh dich nicht um erinnert an den Kinderreim Plumpsack oder aber an die gleichnamige Kurzgeschichte von Daphne du Maurier, berühmt geworden in der Verfilmung von Nicolas Roeg Wenn die Gondeln Trauer tragen.
Aus ihren Zwiegesprächen mit literarischen Vorlagen moduliert Carola Czempik krustige oder auch marmorne Strukturen, in denen sich Geschichten und Geschichte sedimentartig eingraben. Mal gegenständlich, mal abstrakt und immer non-linear. Dazwischen tauchen Wortfetzen auf, in denen die Sprache selbst geschichtet ist. Abstrahiert zu einer sehr freien Erzählung, in der jede der kleinformatigen Tafeln zu einer Kürzestgeschichte um das Leben und das Sehen, um Kindheit, Tod und Teufel – nicht nur in England oder Venedig – wird.
Reiner Mährlein studierte in den 1980er-Jahren bei Wilhelm Uhlig an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg und anschließend bei Jean Cardot an der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris. Beide Professoren stehen in der Tradition des Realismus, Cardot mit bisweilen abstrahierenden Tendenzen.
Anfänglich trugen auch Reiner Mährleins Skulpturen figürliche Züge. Denn, so der Künstler: „Das Festhalten an der Form gibt einem Sicherheit“. Mit der Zeit jedoch gelangte er über die Kombination von Stein und Stahl einerseits und das Experimentieren mit verschiedenen Techniken andererseits zu immer abstrakteren Formen.
Im Hinblick auf die Stoffe, aus denen seine zwischen Skulptur und Plastik changierenden Werke sind, ist er der bildhauerischen Tradition allerdings treu geblieben. Arbeitet bevorzugt mit Eisen und mit Granit, dem – laut Goethe – „Urgrund der Welt“.
Beispiele für seine Stein- und Stahlverbindungen sind Passé und En Cube, in denen sich der roh behauene Granit in die gebogenen Stahlformen einfügt. Was Reiner Mährlein bis heute an diesem Kontrast fasziniert, ist die Wirkung des Granits, der, wie er sagt: „seine Masse auch im eingebauten Zustand behauptet.“
Ein weiteres zentrales Element ist das Papier. Für seine Prägungen benutzt Mährlein Granitformen oder Eisenplatten und verleiht dem Papier so eine bildhauerische Qualität. So scheinen kompakte, schwere Formen in seinen Rostmonotypien zu schweben. Gesteigert wird diese bildhauerische Qualität des Papiers in Arbeiten wie Cube oder Cintré à l’Âme – was man frei mit ‚gebogene Seele’ übersetzen kann.
In den letzten drei Jahren hat Reiner Mährlein neue, andere Werk- und Materialprozesse entwickelt. Die Formen dieser Skulpturen lassen schmunzeln und schon die Titel stimmen einen witzig-ironischen Ton an. „Plus que plein“ und „Plus que vide“ – ob das Glas halb voll ist oder halb leer, liegt letztlich im Auge des Betrachters. Geradezu der Überdruss formiert sich in „Ras le bol“ und „Plus que ras le bol“. Was soviel wie „Mir reicht’s!“ bedeutet. Dem Granit, dieser Grundfeste der Bildhauerei, scheint seine Rolle nicht mehr zu behagen. In seinen neuen Skulpturen verweist Reiner Mährlein auf den magmatischen und also flüssigen Ursprung des Steins, über den der Bildhauer sagt: „Er quillt aus dem Sockel hervor, wie im grimmschen Märchen der süße Brei.“